DER ANSCHNITT Ausgabe 3-4|2018

ISSN 0003-5238
Einzelheft 9,– €
Doppelheft 18,– €
Jahresabonnement (6 Hefte) 54,– €

Inhalt

Die aktuelle Ausgabe des ANSCHNITT enthält ein inhaltlich wie zeitlich breites Themenspektrum.

Dr. habil Gisela Parak vom Institut für Industriearchäologie, Wissenschafts- und Technikgeschichte der TU Bergakademie Freiberg beschreibt anhand von Beispielen aus Sachsen und dem Ruhrgebiet die Darstellung von Industrie- und Bergbaulandschaften in der Fotografie der 1920er und 1930er Jahre. Im Zentrum des Beitrags stehen ein Vergleich zwischen den Fotografen Albert Renger-Patzsch und Paul Schulz und ein Plädoyer für die Berücksichtigung bislang weniger bekannter fotografischer Werkgruppen in der Forschung.

Alexandra Hylla M.A., Sammlungsleiterin Münzen, Medaillen und Geldwertzeichen des SALZBURG MUSEUMS, widmet sich der Silberschmiedekunst des 16. Jahrhunderts. Ihr Beitrag zeigt anhand herausragender Beispiele, wie vielfältig die Interpretationen des Silbers in der Geisteswelt und Kunst des Erzgebirges ausfallen konnten und auf welche Weise sie in der Goldschmiedekunst umgesetzt wurden. Untersucht werden u. a. das Ratskruzifix von Freiberg, zwei Handsteine Caspar Ulichs sowie zwei Arbeiten von Concz Welcz aus St. Joachimsthal.

Lea Althoff untersucht Freizeitangebote im Ruhrgebiet und ihre Nutzung durch Arbeiter vor dem Ersten Weltkrieg. Sie zeichnet die Entwicklung von der traditionellen Freizeitkultur bis zur Durchsetzung kommerzieller Freizeitangebote nach und betrachtet die zunehmende Professionalisierung und Differenzierung des Angebots das schon vor 1914 eine Populär- und Massenkultur entstehen ließ.

Im abschließenden Beitrag untersucht Hans Schüller ein Graffiti aus dem unterirdischen Basaltabbau von Mayen, das wohl als früher Grubenplan aus den Steinbrüchen des Eifeler Mühlsteinreviers zu deuten ist. Eine profunde Analyse des Entstehungskontexts und die Interpretation der Zeichnung bilden den Mittelpunkt seiner Ausführungen.

Ergänzt wird das Heft wie gewohnt durch Tagungsberichte und Miszellen zu verschiedenen Themen sowie mehrere Rezensionen.

ISSN 0003-5238
Einzelheft 9,– €, Doppelheft 18,– €, Jahresabonnement (6 Hefte) 54,– €

  • Gisela Parak
    „Industrielandschaft“ und „Bergbaulandschaft“ in der Fotografie der 1920er und 1930er Jahre. Beispiele aus Sachsen und dem Ruhrgebiet
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  • Fotografische Bilder als „Denkbilder“ und nicht mehr als „Abbilder“ zu verstehen, dafür plädierte die Wissenschafts- und Technikhistorikerin Maria Osietzki im Jahr 2004 und akzentuierte die vielseitigen Anschlussmöglichkeiten fotografischer Bilder als diskursive Schnittstellen, welche die disziplinären Grenzen des akademischen Fächerkanons zu überschreiten bzw. zu unterwandern vermögen. Ein in DER ANSCHNITT veröffentlichter Beitrag der beiden DBM-Wissenschaftler Jana Golombek und Torsten Meyer wollte jüngst aus einer nicht weiter spezifizierten industriekulturellen, umwelthistorischen, landschaftsgeografischen Perspektive heraus zum weiteren Nachdenken über den Begriff der „Landschaft“ anregen. Auch in diesem Beitrag spiegelt sich die bereits vielfach festgestellte Konjunktur des Beschäftigungsgegenstandes „Landschaft“ wider, die von einem sprachlichen Pluralismus begleitet wird. Den Kernbegrifflichkeiten wie „Kulturlandschaft“, „Industrielandschaft“ oder „industrielle Kulturlandschaft“ wird hierbei kontinuierlich ein neues Angebot von Begrifflichkeiten wie das einer „technologische[n] Landschaft“, einer „Landschaft des Anthropozäns“, oder der „Maschinenlandschaften“ hinzugefügt, wobei mitunter fraglich scheint, welche inhaltlichen Perspektiven diese sprachlichen Neuerungen mit sich bringen sollen. Die Migration der Begrifflichkeiten und deren Transformation, bzw. unterschiedliche Anwendung in den akademischen Disziplinen legt jedoch die grundsätzliche methodologische Problematik offen, dass Begriffe nur aus dem zeitlichen Kontext ihrer Verwendung innerhalb einer bestimmten Perspektiven heraus verständlich sind. Der Aufsatz von Golombek/Meyer versteht „Landschaft“ beispielsweise im Aufgreifen des „spatial turns“ als Ausdruck eines räumlichen Interaktionsprozesses von Mensch-Umwelt: „Die Industrielandschaft ist raumstrukturelle Wiederspiegelung des Industrialisierungsprozesses.“ Eine Auffassung von „Landschaft“ als mentales Imaginationsbild, das die kulturell konnotierten Vorstellungen einer bestimmten Epoche widerspiegelt, wie sie die Kultur- und Kunstgeschichte vertritt, ist in ihrem Ansatz hingegen nicht berücksichtigt. Wegen der notwendigen Ziel- und Engführung einer wissenschaftlichen Argumentation ist es zumeist nicht möglich, einen meta- oder transdisziplinären methodischen Ansatz anzulegen. Vielleicht hat auch generell zu viel Interdisziplinarität zu einer Aufweichung präziser Definitionen geführt. Golombek/Meyer regen – wie andere Autoren – dazu an, die „Landschaft“ selbst als transitorische Begrifflichkeit und Raumvorstellung zu historisieren; im Konkreten durch die Verwendung von Temporaladjektiven. Eine ideengeschichtliche Verortung und Historisierung der Begrifflichkeiten als Notwendigkeit einer Spezifizierung und Konkretisierung der vielfältigen Vorstellungen von „Landschaft“ erfolgt jedoch auch bei ihnen nicht. Einen kulturhistorischen Ansatz vertretend, möchte der vorliegende Aufsatz in diesem Zusammenhang zumindest den Ansatz eines kursorischen ideengeschichtlichen Überblicks über die Begrifflichkeiten anbieten, um im Folgenden anhand fotografischer Landschaftsbilder der 1920er und 1930er Jahre unterschiedliche Nutzungskontexte, Verwertungszusammenhänge und Rezeptionsmuster zu kartieren. Hierzu dient ein asymmetrischer Vergleich industrieller Landschaftsbilder des bekannten Vertreters der „Neuen Sachlichkeit“, des Fotografens Albert Renger-Patzsch (1897-1966), als Ausgangspunkt, denen die fotografischen Studien von Bergbaufolgelandschaften aus dem sächsischen Braunkohletagebau des Amateurfotografens Paul Schulz (1882-1967) gegenübergestellt werden. Der asymmetrische Vergleich soll hier ein breiteres Verständnis der Auffassung von „Industrielandschaften“ und „Bergbaulandschaft“ oder Bergbaufolgelandschaft und unterschiedlicher Zugänge und Zugriffe im genannten Zeitraum ermöglichen. Welche Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns sind hier trotz der beschriebenen methodischen Grenzen und Beschränkungen zu erwarten, wenn man Osietzkis Glauben an die transdisziplinären Möglichkeiten des (fotografischen) Bildes weiterdenkt?
  • Alexandra Hylla
    Himmlisches Erz – Silberschmiedekunst des 16. Jahrhunderts
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  • Bereits vor dem sogenannten Silberrausch des 16. Jahrhunderts war das Metall Silber auf unterschiedliche Weise von Künstlern und Schriftstellern verwendet und gedeutet worden. Dabei beschäftigte man sich zumeist mit den natürlichen Eigenschaften des Feinsilbers, seinem Klang und Glanz, der großen Spiegelkraft und seiner weißlichen Färbung. Seine Kostbarkeit und Begehrtheit standen im Vordergrund. Durch das angehäufte Fachwissen des Bergbaus und mineralogische Neuentdeckungen des 16. Jahrhunderts traten schließlich ganz neue Eigenschaften und Erscheinungsformen des Silbers in den Fokus der Gelehrten. Man thematisierte das Material nun verstärkt im Zusammenhang mit seiner Entstehung im Gestein und seiner mühsamen Gewinnung. Angepasst an ihren Kundenkreis, präsentierten Goldschmiede zunehmend bergbauliche Motive oder rohe Silbererze in ihren Werken. Es entstanden die Meisterwerke bergbaulicher Kunst, die die Sammlungen großer Fürsten und reicher Bürger füllten. Die folgende Arbeit stellt den Versuch dar, anhand ausgewählter Schriften und Objekte die mannigfaltigen Möglichkeiten von Verwendung und Interpretation eines bestimmten Werkstoffes in der Kunstproduktion einer Region und Zeit zu beleuchten. Konkret geht es um den Gebrauch des Edelmetalls Silber in der Goldschmiedekunst des Erzgebirges im 16. Jahrhundert. Es war die Zeit großer kultureller Leistungen und höchster wirtschaftlicher Blüte des Bergbaugebietes. Ziel des Montanwesens war der Abbau von Silber, alle weiteren Metalle und Mineralien können als Nebenprodukte des Silberbergbaus betrachtet werden. Für knapp ein Jahrhundert avancierte der Silberbergbau zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor auf dem Gebiet des heutigen Mitteleuropas. Im Zuge dessen wurde die Rolle der Bergleute entscheidend aufgewertet. Ihre Tätigkeit unter Tage gab ihnen immer noch den Ruch des Geheimnisvollen, und doch wurden sie für ihr Spezialistentum bewundert. In den Bergstädten hielt sich die geistige Elite der Zeit auf, um Forschung zu betreiben und an den kulturellen Leistungen der Erzförderung teilzuhaben. Es entstand ein reger geistiger Austausch zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, aber auch unter den Bergbaurevieren. Die Mobilität der Bevölkerung wuchs, und auf der Suche nach ertragreichen Gruben reiste man dem „Berggeschrey“ hinterher. Der Bergbau wurde nicht zuletzt durch den Wunsch nach Selbstrepräsentation der Beteiligten zu einem beliebten Thema im Schrifttum und in der bildenden Kunst. Entsprechend bedeutsam wurde das Metall in der Geisteswelt und der materiellen Kultur der Menschen in diesen Bergbauregionen. Einzigartige Kunstobjekte konnten entstehen, die direkt auf den gelehrten Diskurs ihrer Zeit eingingen und gleichzeitig die neu entdeckten Wunder der Natur zur Schau stellten. Ausgelöst wurde der Aufschwung im europäischen Bergbau durch die technische Weiterentwicklung und die Modernisierung veralteter Bergordnungen. Dies führte zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu einem vermehrten Interesse von Landesfürsten und Investoren in die Gewinnung von Bodenschätzen. Neue Verhüttungsverfahren waren ursächlich für den Aufschwung des alten Erzbergbaus am Rammelsberg, brachten der Stadt Goslar zwischen 1450 und 1525 größten Reichtum. Zeugnis dafür legt noch heute die sogenannte Goslarer Bergkanne von 1477 ab, die zu den frühesten Goldschmiedearbeiten mit plastischen Bergbaudarstellungen zählt. Ähnliches gilt für die Förderstätten in Tirol. Das Bergwerk von Schwaz erreichte im Jahr 1523 seine größte Fördermenge Silber mit 55.800 Mark und war von 1420 bis 1530 der wichtigste Silberlieferant in ganz Europa. Weitere wichtige Lagerstätten für Gold, Silber und Kupfer im damaligen Österreich-Ungarn fanden sich bei Kremnitz (Kremnica), Schemnitz (Banská Stiavnica), Kuttenberg (Kutná Hora) und im westlichen Erzgebirge. Im Zuge der neuen Entwicklung erreichte man vielerorts die Wiederaufnahme aufgelassener Bergwerksbetriebe und die Erschließung neuer Erzlagerstätten. Im Jahr 1516 wurden nahe einer veralteten Grube bei Conradsgrün im böhmischen Erzgebirge so reiche Silbererzvorkommen aufgefunden, dass sich dort nach nur vier Jahren die freie Bergstadt St. Joachimsthal mit etwa 5.000 Einwohnern entwickeln konnte. Rasant wuchs die Stadt, sodass man es im Jahr 1525 bereits auf 13.411 und im Jahr 1533 auf 18.000 Einwohner brachte. Etwa die Hälfte der Menschen war direkt in den Gruben tätig. Die maximale Ausbeute im Jahr 1533 lag bei 242.875 Talern. Im Sächsischen Teil des Erzgebirges, bei Annaberg, Schneeberg oder Freiberg, sah es ähnlich aus. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts wurde die Erzförderung noch einmal intensiviert und mit modernster Technik ausgestattet, bis gegen
    Ende des Jahrhunderts die Erträge einbrachen. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts war der Zenit des europäischen Bergbaus überschritten. Zum einen lag dies an der raschen Erschöpfung der Lagerstätten, zum anderen wurde der Markt durch die massenhaften Gold- und Silberimporte aus Süd- und Mittelamerika regelrecht überschwemmt. So wurden viele Bergwerksbetriebe aufgelassen, da sie nicht mehr konkurrenzfähig waren. Zum Ende des 16. Jahrhunderts befand sich der europäische Bergbau in einer tiefen Krise. Im Folgenden sollen zunächst die althergebrachten, christlich tradierten Gedanken zum Werkstoff Silber zusammengefasst werden, um im Anschluss zu veranschaulichen, wie die Neuerungen des 16. Jahrhunderts dazu beitrugen, diese Ideen weiterzutragen, auszubauen oder fallenzulassen. In knappen Beispielen sollen die wichtigsten Schriften des 15. und 16. Jahrhunderts vorgestellt werden, die bereits Zeugnisse der erneuerten Geisteshaltung zum Bergbau und Silber enthalten. Ausgehend von diesen, werden bedeutende bergmännische Objekte umrissen, die nicht als Kunstobjekte im engeren Sinne gezählt werden, oder die außerhalb der Goldschmiedekunst anzusiedeln sind. Sie bilden aber den Rahmen, innerhalb dessen die Goldschmiedeobjekte hervorgebracht wurden, um die es im dritten Teil gehen soll. Diese ´ Untersuchung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, weder bei den hinzugezogenen Schriften, noch den Objekten. Vielmehr soll anhand einiger Glanzlichter der Versuch gemacht werden, dem Leser die Vielfältigkeit des Materials vor Augen zu führen. Einerseits ist es leicht, herausragende und interessante Kunstobjekte im vorgegebenen regionalen und zeitlichen Rahmen zu finden, denn es gibt etliche. Limitierender Faktor ist andererseits, dass viele der bergbaulichen Kunstobjekte, die in diesem Bereich relevant erscheinen, nur selten das Interesse von Kunsthistorikern auf sich ziehen konnten, sodass nur wenige ausführlich untersucht und beschrieben worden sind. Weil die Objekte in dieser Arbeit nach ihrem Material gewählt wurden, mag die Auswahl auf den ersten Blick heterogen wirken. Bei genauerem Hinsehen aber, und das ist der Zweck dieses Beitrags, werden die Zusammenhänge deutlich. Der Objektkatalog ist in vier Abschnitte gegliedert. Es wird im ersten Abschnitt gezeigt, wie die silbernen Knappschaftsinsignien von Freiberg und Schemnitz zur Verbildlichung des Worts Gottes dienten und sich auf einem schmalen Grat zwischen bergmännischer Prunksucht und Gottesfürchtigkeit bewegten. Eine Medaille des Künstlers Concz Welcz (gest. um 1555) aus St. Joachimsthal ist aus rohem Silbererz geprägt und verdeutlicht im zweiten Abschnitt die Verehrung für dieses ungewöhnliche Material, das bisher von der Kunstgeschichte missachtet wurde. Darum muss auf die genaue Technik und den Werkstatthintergrund von Concz Welcz und dessen Schüler Caspar Ulich (gest. 1576) eingegangen werden. Wie Silber wächst und was es dazu antreibt, wird im dritten Abschnitt besprochen, der den Handstein mit Caritasdarstellung des Concz Welcz vorstellt. Es ist die Idee der Gottesgabe und Fürsorge, die ihn bestimmt. Zuletzt führt die Betrachtung von Silber und Bergbau zum Körper Christi und seinem Leiden. Hier werden das Ratskruzifix von Freiberg und zwei Handsteine Caspar Ulichs aus St. Joachimsthal genauer untersucht. Innerhalb der Geschichtswissenschaften wurden bisher wenige
    Untersuchungen um den Begriff des Silbers und seine Bedeutung beziehungsweise die Verwendung des Metalls allgemein vorgenommen. Einen tiefen Einblick in die christlichen Traditionen seiner Materialbedeutung hat Herbert Kessler mit seinem Aufsatz „The eloquence of silver“ ermöglicht und dabei interessante Objektbeispiele herangezogen. Indessen scheinen für das 16. Jahrhundert und speziell im Zusammenhang mit der Bergwerkskultur, keine vergleichbaren Schriften veröffentlicht worden zu sein. Gute Vorarbeit haben bisher die Forscher aus der Volkskunde geleistet, die bergmännische Sagen und Sprüche gesammelt und ihre Funde in einen Kontext mit der zeitgenössischen Literatur gestellt haben. Franz Kirnbauer und Gerhard Heilfurth seien hier namentlich hervorgehoben. Des Weiteren finden sich wichtige Inhalte in geologisch-mineralogischen Schriften, die sich mit dem Edelmetall befassen. Um dem Bedeutungsspektrum des Silbers für den hier erzielten Rahmen jedoch näher zu kommen, bleibt die Untersuchung der wichtigsten Bergbücher, Chroniken und Predigten der Zeit unerlässlich.
  • Lea Althoff
    Freizeitangebote im Ruhrgebiet und ihre Nutzung durch Arbeiter vor dem Ersten Weltkrieg
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  • Freie Zeit nach Belieben füllen – dieser Wunsch kann erst in Erfüllung gehen, nachdem existenzielle Bedürfnisse wie Schlaf und Nahrung gesichert sind. Aber auch danach ergeben sich noch wesentliche Bedürfnisstrukturen wie die Pflege von zwischen-menschlichen Kontakten und der regenerative Ausgleich zur Arbeitszeit. Die Arbeiter im Ruhrgebiet verfügten um die Wende zum 20. Jahrhundert erstmals über frei verfügbare Zeit und das notwendige Einkommen, um diesen sekundären Bedürfnissen in einem geringen Maße gerecht zu werden. Zeitgleich entwickelte sich in den europäischen Metropolen eine neue Form der kommerziellen Freizeitkultur, welche auch die Städte im Ruhrgebiet erreichte und der wachsenden Nachfrage der dortigen Bevölkerung ein vielfältiges Angebot entgegenstellte. Die modernen Freizeitformen knüpften dabei an bestehende, traditionelle Praktiken der Freizeitgestaltung an und füllten die alten Formate mit neuem Inhalt. Sie wurden zu einem Teil des modernen, urbanen Stadtbildes und fassten Fuß in den wachsenden Gemeinden. Auch wenn die Arbeiterschaft die größte Bevölkerungsgruppe im rheinisch-westfälischen Industriegebiet stellte, war die Bevölkerungszusammensetzung der Städte und Gemeinden durchaus nicht homogen, eine Mittelschicht war durchaus präsent. Im „Revier der großen Dörfer“, in dem dörfliche und kleinstädtische Strukturen durch die neuen Industrieansiedlungen überwuchert wurden, fanden sich neben alteingesessenen Handwerkern, Händlern und Bauern die Angestellten und „Beamten“ der Zechen- und Industrieanlagen sowie weitere in den Kommunen beschäftigte Verwaltungsangestellte und Beamte. Gleichwohl lebten die bürgerlichen Bevölkerungsgruppen und die Arbeiterschaft nur bedingt segregiert voneinander. In den urbanen Zentren begegneten sich Arbeiter und Angestellte ebenso wie in den Arbeiterkolonien und an den Arbeitsplätzen, auf Volksfesten traf der alte Mittelstand auf die neue Industriearbeiterschaft. Aus diesen Kreisen der Mittelschicht setzten sich auch die Gruppierungen der bürgerlichen Sozialreformer zusammen. Sie erlebten die defizitäre Urbanisierung ihrer Städte und Gemeinden und waren eng in die Lebensrealitäten der Arbeiter eingebunden, ohne allerdings die existenziellen Sorgen und Bedürfnisse vollständig zu verstehen und nachzuvollziehen. Sie versuchten eher, die von ihnen gelebten Werte auf die proletarischen Familien zu übertragen und eine gehaltvolle Form der Freizeitgestaltung zu propagieren. Hierbei handelte es sich indes weniger um ein Angebot, sondern eher um eine gezielte Bevormundung, die mithilfe der örtlichen Behörden und der Unternehmer durchgesetzt werden sollte. Den Arbeitern wurde nicht zugetraut, über ihre freie Zeit und über ihr disponibles Einkommen eigenständigzu verfügen. So wurde die Freizeitgestaltung der Arbeiter zu einem konstanten Spannungsfeld zwischen verschiedenen kulturellen, staatlichen und ökonomischen Interessengruppen.
    Die Auseinandersetzungen um „gute“ und „schlechte“ Freizeitgestaltung, um Bildungs- und Kulturideale in bürgerlichen Reformzirkeln wie auch in der organisierte Arbeiterbewegung sind bereits in den 1980er und 1990er Jahren in der Forschung breit diskutiert worden. Insbesondere Elisabeth Kosok und Lynn Abrams haben sich eingehend mit der Entwicklung der Arbeiterfreizeit und deren Regulierung durch Staat und Behörden beschäftigt. Es folgten zahlreiche lokalgeschichtliche Studien, die sich unterschiedlichen Aspekten und Formen kommerzieller Freizeitkultur widmeten. Die folgende Untersuchung versucht, diese freizeitgeschichtliche Historiographie zusammenzuführen und geht dabei vor allem der Frage nach, inwiefern sich ältere Unterhaltungs-, Fest- und Freizeitformen vor dem Ersten Weltkrieg den industriell-urbanen Gegebenheiten des Ruhrgebiets anpassten und sich so, parallel zur Kultur der kirchlichen und Arbeiterbewegungsmilieus, eine neue städtische, vor allem kommerziell geprägte Freizeitkultur etablierte.
  • Hans Schüller
    Ein früher Grubenplan aus dem Mühlsteinbetrieb? Bemerkungen zu einem Graffiti aus dem unterirdischen Basaltabbau von Mayen
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  • Im Jahr 2008 entdeckte der Koblenzer Peter May „bei einem seiner Streifzüge durch das Mayener Grubenfeld“ an einer Basaltsäule eines einstmals unterirdischen Steinbruchs eine auffällige „Wandzeichnung“ (Abb. 1). Seine Entdeckung machte er sofort dem Römisch-Germanischen Zentralmuseum Mainz (RGZM) bekannt, das in Mayen einen Kompetenzbereich für Vulkanologie, Archäologie und Technikgeschichte (VAT) unterhält. Dort wird seit zwei Jahrzehnten intensiv die Mühlsteinindustrie erforscht. Zum Netzwerk der VAT gehören eine Reihe externer Forschungseinrichtungen, Museen, Vereine und Personen. Die Bearbeitung der entdeckten Wandzeichnung wurde an den Verfasser weiter gegeben, der zusammen mit dem Dipl.-Geogr. Joern Kling die Bearbeitung der mittelalterlichen und neuzeitlichen Mühlsteinproduktion im Eifeler Mühlsteinrevier übernommen
    hat. Der vorliegende Beitrag geht der von Peter May aufgeworfenen Frage nach, ob es sich bei dem Graffiti um einen „Grundriss oder Raumplan […] der unterirdischen Abbaustollen“ handelt. Diese nicht von der Hand zu weisende Überlegung wird auch durchden Anbringungsort des Graffitis gefördert. Denn innerhalb des weitausgreifenden, Jahrtausende alten Mayener Grubenfeldes befindet sich die Zeichnung in einem Gebiet, das zunächst vom unterirdischen Steinabbau geprägt wurde. Die Fundstelle liegt im Übergangsbereich der von Josef Röder als Zone 3 (mittelalterlicher Abbau) und Zone 4 (mittelalterlicher, neuzeitlicher unterirdischer Abbau) bezeichneten Gebiete (Abb. 2).4 Im gesamten Grubenfeld (Zone 1 bis 4) wurde bis Mitte des 19. Jahrhundertsin erster Linie jene Lava gewonnen, die sich für die Herstellung von Mühlsteinen eignete. Von dem etwa 15 bis 20 Meter starken Mayener Lavastrom war der obere Teil, die ersten 9 bis 15 Meter für die Produktion von Mühlsteinen geeignet. Nur in diesem Abschnitt hat die Lava jene Qualität, die für den guten Ruf der Rheinischen Mühlsteine verantwortlich ist. Erst als im 19. Jahrhundert die Werksteinproduktion den Mühlsteinbetrieb nach und nach ablöste, wurde auch die tiefliegende, den qualitativen Ansprüchen an einen Werkstein genügende Basaltlava abgebaut. Die vorgeschichtlichen (Zone 1), römischen (Zone 2), (früh-) mittelalterlichen (Zone 3) und die mittelalterlich-frühneuzeitlichen (Zone 4) Abbaustellen wurden vom modernen Gewinnungsbetrieb erneut aufgesucht und fast bis auf den letzten Stein ausgebeutet. So kommt es, dass heute das Gebiet um die Fundstelle geprägt ist vom älteren unterirdischen Abbau und vom jüngeren Tage-bau. Es bietet sich ein Bild von modernen Gruben des 20. Jahrhunderts, an deren Abbauwänden sich die Hallen, Kammern, Pfeiler und Schächte des Untertagebaus geradezu reliefartig abgebildet haben (Abb. 3).
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