DER ANSCHNITT Ausgabe 2-3|2019

ISSN 0003-5238
Einzelheft 9,– €
Doppelheft 18,– €
Jahresabonnement (6 Hefte) 54,– €

Inhalt

Jan De Graaf PhD, Historiker an der belgischen Universität Leuven und ehemaliger Winkelmann-Stipendiat des Deutschen Bergbau-Museums Bochum, wirft einen neuen Blick auf die industriellen Arbeitskämpfe, die den Ruhrbergbau in der Nachkriegszeit insbesondere in den Jahren 1947 und 1948 erschütterten. Obwohl die katastrophale Ernährungslage die Hauptursache von Streiks und Protesten waren, hoben bisherige Studien in der Regel die Forderungen der Bergleute nach Sozialisierung und Mitbestimmung hervor. De Graaf stellt anhand einer Auswertung zahlreicher lokaler Beispiele die besondere Rolle der Nahrungsmittelversorgung heraus und deckt dabei die tiefe Kluft zwischen den Gewerkschaftsführern und ihrer Basis als auch die Spaltung der Arbeiterklasse im Nachkriegsdeutschland auf.

Steinkohle wurde in der geschichtswissenschaftlichen Betrachtung bislang vor allem als Wirtschaftsfaktor industrieller Regionen und Motor der Industrialisierung verstanden. Dr. des. Nora Thorade, Institut für Geschichte der TU Darmstadt, betrachtet den Rohstoff mit einer neuen Fragestellung. Warum eine genauere Auseinandersetzung mit der Materialität der Steinkohle hilfreich ist und welche Möglichkeiten eine stoffhistorische Perspektive für die Montangeschichte bereitstellt, sind die Kernfragen ihres Beitrages. Ausgehend von einer historischen Betrachtung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Materialität der Steinkohle im 19. Jahrhundert, werden dabei verschiedene Anknüpfungspunkte für die moderne Montangeschichte herausgearbeitet.

Dr. Stefan Moitra, Montanhistorisches Dokumentationszentrum des Deutschen Bergbau-Museum Bochum, sowie Katarzyna Nogueira M. A. und Dr. Jens Adamski von der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets, Bochum, stellen in ihrem Beitrag die ersten Ergebnisse des Oral History-Projekts „Digitaler Gedächtnisspeicher. Menschen im Bergbau“ vor, das zwischen 2014 und 2018 in Kooperation der beiden Institute unter Förderung der RAG Aktiengesellschaft durchgeführt wurde und seit vergangenem Sommer mit der Förderung der RAG-Stiftung weitergeführt wird. Im Zentrum des Interesses stehen dabei drei grundsätzliche Fragen: Wie wird der Steinkohlenbergbau von den Beteiligten erzählt und erinnert? Wie haben sie die vielfältigen Entwicklungen erlebt, denen sich die Branche stellen musste? Und welchen Beitrag können ihre Lebensgeschichten und Erinnerungen zu den Diskussionen im Bereich der Bergbaugeschichte und des industriellen Erbes leisten?

Die seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts bei der Wiedereröffnung römischer Gruben in Spanien, Portugal, Rumänien und England entdeckten Wasserheberäder haben zahlreiche Fragen zu deren Konstruktionsdetails aufgeworfen, die bislang mit wenigen Ausnahmen unbeantwortet blieben. Dr. Volker Wollmann, Obrigheim, stellt in seinem Beitrag am Beispiel der in den Goldgruben Dakiens entdeckten Überbleibsel solcher Räder neue Erkenntnisse zu Funktion und Bauart vor.

Ergänzt wird das Heft wie gewohnt durch Tagungsberichte und Miszellen zu verschiedenen Themen sowie mehrere Rezensionen.

ISSN 0003-5238
Einzelheft 9,– €, Doppelheft 18,– €, Jahresabonnement (6 Hefte) 54,– €

  • Jan De Graaf
    „Arbeiten ist eine Magenfrage.” Fehlschichten, wilde Streiks und Proteste im Ruhrbergbau, 1945-1948
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  • Die Belegschaftsversammlung der Zeche Emscher-Lippe in Datteln drehte sich im Februar 1947 vor allem um die Frage der Sozialisierung. Der Kreisbeauftragte des Industrieverbandes Bergbau widmete dem Thema eine lange Rede, der zahlreiche Anmerkungen der Betriebsratsmitglieder folgten. Die Debatte wurde mehrfach durch Fragen zu dem am 16. Januar eingeführten Punktesystem unterbrochen, das Arbeiter, die sich auf den Zechen anlegen ließen, die Möglichkeit eröffnete, abhängig von ihrer Leistung Bonuspunkte zu sammeln, die in begehrte und sonst kaum erhältliche Konsumartikel eingetauscht werden konnten. Schon zu Beginn der abschließenden Generaldebatte
    stellte ein Bergmann die Frage, „die uns wohl allen am Herzen liegt”, nämlich „wie es mit dem Speck steht”. Und tatsächlich hatte die britische Militärregierung schon bei der Einführung des Punktesystems versprochen, dass den Bergarbeitern Speck zur Verfügung gestellt werden würde. Allerdings bestanden die schließlich unter den Bergleuten verteilten Rationen nicht wie versprochen vollständig aus „grünem Speck”, dem reinen Speck aus dem Schweinerücken, sondern zu zwei Dritteln aus anderem Fleisch, das zudem Knochen enthielt. Dies war ganz und gar nicht das, was die Bergleute unter Speck verstanden: „Mir ist es nämlich nicht gleich, ob ich Fleisch und Knochen kriege oder Speck, mir nicht!”, so ein wütender Kommentar. In seiner Antwort erläuterte der Betriebsratsvorsitzende, dass Gewerkschaftsvertreter in dieser Frage bereits in Verhandlungen stünden, allerdings auch kulturelle Faktoren berücksichtigt werden müssten. Unter allgemeinem Gelächter stellte er fest: „Der Engländer versteht unter Speck, wenn man dem Schwein den Kopf abschneidet und die Beine, dann ist das Speck.” Es ist häufig angemerkt worden, dass „Speck” und „Sozialisierung” die beiden zentralen Ziele der Arbeiterbewegung im Ruhrkohlenrevier während der Nachkriegszeit darstellten. Dabei argumentieren Historiker üblicherweise, dass industrielle Arbeitskämpfe für bessere Lebensbedingungen und veränderte industrielle Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Region in einem engen Zusammenhang standen. Dieser Punkt wurde gerade in Bezug auf die massive Streikwelle, die die Region in den ersten Monaten des Jahres 1947 erschütterte, hervorgehoben. Dabei wird grundsätzlich anerkannt, dass diese meist spontanen Streiks sich vor allem gegen den verbreiteten Nahrungsmittelmangel richteten, aber auch unterstrichen, dass dabei Forderungen nach einer Sozialisierung des Ruhrbergbaus und nach mehr Mitbestimmung immer auch eine besondere Rolle spielten. Eine Analyse der Plakate, die Bergleute bei der großen Protestaktion mit sich führten, die der Industrieverband Bergbau am 3. April 1947 veranstaltete, belegt dies eindrucksvoll. Im Mittelpunkt des Interesses standen hier neben einer besseren Versorgung „auch politische Parolen wie nach der Sozialisierung der Betriebe und der Einheit Deutschlands”. Solche politischen Forderungen werden gewöhnlich als spezifisches Merkmal des industriellen Protests im Ruhrbergbau der Nachkriegszeit angesehen. In ihrem Buch über Streiks und Hungermärsche zeigen Christoph Kleßmann und Peter Friedemann, dass „im Vergleich zu den Aktionen außerhalb des Bergbaus” die Protestaktion am 3. April wie auch deren Vorläufer „ein viel deutlicheres politisches Profil” trugen. Denn „Sozialisierungsforderungen tauchten nicht nur peripher auf, sondern spielten eine zentrale Rolle.” In jüngerer Zeit stellte Dick Geary fest, dass die Entpolitisierung des Protests nach der Streikwelle des Frühjahrs 1947 auch daraus resultierte, dass Bergleute an der neuen Streikwelle, die das Ruhrgebiet im Januar 1948 erfasste, nicht mehr federführend beteiligt waren. So wurden die Streiks der Bergleute von 1947 grundsätzlich von weitreichenden Forderungen nach sozialpolitischen Reformen begleitet, während die Streiks der Metallarbeiter 1948 nahezu ausschließlich die unzureichende Nahrungsversorgung betrafen. Es schien daher, so sein Fazit, als ob „the radical traditions of solidarity amongst Ruhr miners had survived the Third Reich and Nazi persecution”. Dieser Beitrag versucht einen neuen Blick auf die Streiks und andere Formen der Arbeitsverweigerung im Ruhrbergbau der Nachkriegszeit. Der erste Abschnitt befasst sich mit dem Vorlauf der großen Streikwelle des Frühjahrs 1947. Während dieser Phase gab es nur vergleichsweise wenig Streiks, sondern die zusehends wachsende Unzufriedenheit der Bergleute zeigte sich vordergründig an der extrem hohen Anzahl der Fehlschichten auf den Zechen. Der Schwerpunkt des zweiten Abschnitts liegt dann beim Bergarbeiterstreik 1947 und seinen umfangreichen Folgewirkungen. Der Nahrungsmangel als grundlegender Faktor der Bergarbeiterproteste zwang den Industrieverband Bergbau zur Organisation der Veranstaltung am 3. April, doch reichte diese nicht dazu aus, den Gewerkschaftsführern die Kontrolle über die Belegschaften wiederzugeben. Der dritte Abschnitt analysiert die Reaktionen der Bergarbeiter auf die Streikwelle vom Januar 1948. Den Misserfolg von 1947 noch im Hinterkopf, hielten sich die Bergleute nun deutlich zurück und wurden darauf von Arbeitern anderer Industriezweige auch wegen der Privilegien, die sie genossen, heftig kritisiert. Auf diese Streikwellen mit einer „bottom-up”-Perspektive zurückkommend, wirft der Beitrag nicht nur ein neues Licht auf die vielen Trennlinien innerhalb der Gewerkschaftsbewegung der Nachkriegszeit, sondern fragt zugleich eingehend nach den Sozialisierungsbestrebungen und Solidaritätstraditionen, die der Bergarbeiterschaft an der Ruhr gerade für diese Phase so oft zugeschrieben wurden.
  • Nora Thorade
    Gute Kohle – Schlechte Kohle. Die Möglichkeiten der Stoffgeschichte für die Montangeschichte am Beispiel der Steinkohle
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  • Das Ende des Steinkohlenbergbaus in Deutschland war 2018 das dominierende Thema im Ruhrgebiet und lenkte auch überregional den medialen Blick noch einmal auf die Steinkohle. Am Ende des Jahres wurde das letzte Kohlenstück feierlich an Bundespräsident Steinmeier überreicht. Selten stand die Steinkohle als Material so sehr im Mittelpunkt wie bei der Zeremonie der Übergabe; zugleich wurde sie nun offiziell vom Wirtschaftsfaktor zum Souvenier. Die Erinnerung an die Ära der Steinkohle wurde jedoch nur selten durch das Material transportiert, im Mittelpunkt standen in den meisten Fällen andere Bilder: Der schmutzige und von Arbeit gezeichnete Bergmann oder die Fördertürme symbolisierten dabei nicht nur das menschliche oder technische Gerüst des Bergbaus, sondern verwiesen auch auf eine vergangene Gesellschaft. Gleichzeitig bestärkten solche Bilder die beständige Identität einer Arbeitsgesellschaft und einer Region, die durch den Bedeutungswandel des Rohstoffs geprägt ist: die wirtschaftliche und strukturelle Bedeutung des Bergbaus war im wirtschaftlichen Aufschwung ebenso deutlich wie in der Krise, als die Wirtschaftlichkeit der Branche nicht mehr gegeben war. Das Material hatte hier nicht viel zu sagen, hatte weder seine Sprache noch seine agency. Und so nahmen Journalisten, Kuratoren und Historiker die Arbeiter, ihre Lebensräume, den wirtschaftliche Aufstieg im Zuge der Industrialisierung oder den Niedergang und Strukturwandel in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sowie die Umweltprobleme der Kohlenverfeuerung und -verstromung stärker in den Blick als den Rohstoff selbst. Wie auch andere bergbaulich erschlossene Rohstoffe, deren gesellschaftliche Wirkungen und Einflüsse auf die Umwelt zentrale Felder der Montangeschichte sind, wird die Steinkohle in der Regel als Blackbox behandelt.
  • Stefan Moitra|Katarzyna Nogueira|Jens Adamski
    Erfahrung, Erinnerung, Erzählung. Potenziale einer Oral History für die Bergbaugeschichte heute
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  • Bergbaugeschichte sei eine „unvollendete Disziplin“, schrieb Lars Bluma unlängst an dieser Stelle in einem konzeptionellen Beitrag zur Frage, wie eine moderne Bergbaugeschichte aussehen könne. Es handelt sich demnach um eine Schnittstelle zahlreicher historischer Teildisziplinen, die sich über Epochengrenzen und unterschiedliche methodische Zugänge hinweg auf die spezifischen sozialen, kulturellen, technischen und wirtschaftlichen Bedingungen des Montanwesens fokussiert. In Ermangelung einer gewachsenen, disziplinären Rahmung bleibt die Bergbaugeschichte damit gewissermaßen offen für die geschichts- und kulturwissenschaftliche Erweiterung. Bluma lokalisiert dabei eine Reihe von Feldern, durch die sich zukünftig neue Blicke ergeben können. Dazu gehören etwa eine Erweiterung des Raumbegriffs und eine Verstärkung regionenübergreifender, transnationaler und vergleichender Perspektiven; eine Hinwendung zur Geschichte von Produktion und Vermittlung bergbaulichen Wissens– „vor Ort“ wie auch transnational; ein stoffgeschichtlicher Zugang, der anschlussfähig an eine historische Material Culture ist; sowie, gleichsam als Erweiterung der Stoffgeschichte, das große Feld einer Umweltgeschichte des Bergbaus. Zu einem ähnlichen Befund kommen die Herausgeber der vierbändigen „Geschichte des deutschen Bergbaus“ um Klaus Tenfelde, die konstatieren, neben „den bergbauhistoriografisch klassischen Zugängen und Themen der Wirtschafts-, Technik- und Rechtsgeschichte“ sei „moderne Bergbaugeschichte zugleich auch Sozial-, Kultur-, Wissens-, Geschlechter-, Raum-, Unternehmens- oder Umweltgeschichte“. Dieses breite Spektrum wird bei ihnen jedoch noch um einen weiteren Aspekt ergänzt. Denn auch der „‚Nach-Geschichte‘ bergbaulicher Aktivitäten“, den „bergbaubezogenen Erinnerungskulturen“ wie dem „Schicksal aufgelassener Bergbauräume“ generell komme eine besondere Bedeutung zu. Wir möchten im Folgenden hier anschließen und das mögliche Potenzial von erzählten Erinnerungen, Erfahrungen und Wahrnehmungen für eine heutige Bergbaugeschichte diskutieren. In der Tat verknüpfen wir dabei mit der Hinwendung zur Oral History die Bergbaugeschichte mit einer historischen Subdisziplin, die in gewissem Sinne ähnlich „unvollendet“ scheint und sich als Schnittmenge sozial-, geschichts- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresses einer engen definitorischen Eingrenzung versperrt. In der Oral History geht es um die Erfassung und Rekonstruktion von Erinnerungen, Erfahrungswelten, Selbst- und Weltdeutungen und nicht zuletzt um subjektive und kollektive Formen von Geschichtsbewusstsein. Sie kann als historische Quelle fungieren und damit einen Zugang zur Vergangenheit eröffnen, zugleich ist sie aber auch Ausdruck einer retrospektiven Geschichtsbetrachtung und als solcher nunmehr, in unserem Fall, Teil der Nach-Geschichte der deutschen Steinkohlenindustrie. Insofern können Erinnerungsinterviews als geschichtswis Alterskohorsenschaftliche Quelle verstanden werden und tragen zugleich zum weiteren geschichtskulturellen Diskurs bei. Bezogen auf den Bergbau im Ruhrgebiet kann die Oral History durchaus auf eine längere Vorgeschichte zurückblicken. So war mit dem von Lutz Niethammer und Alexander von Plato geleiteten Projekt „Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet, 1930-1960 (LUSIR)“ das bundesrepublikanische Pionierprojekt der Oral History im sozialhistorischen Kontext der Montangeschichte angesiedelt. Zugleich nahmen erinnerungsgeschichtliche Ansätze im Zuge der Geschichtswerkstatt-Bewegung der 1980er Jahre eine wichtige Rolle ein. In den Folgejahren verlegte sich die Praxis der bergbaubezogenen Oral History nicht zuletzt auf den musealen Bereich. So erfüllte gerade im Zuge der Musealisierung von Kohle und Stahl die Sammlung und Aufbereitung lebensgeschichtlicher Interviews sowie generell die Einbeziehung von Zeitzeugen in den Museumsbetrieb eine wichtige Funktion zur Rekonstruktion der früheren Industriestandorte als alltagsgeschichtliche Erfahrungsräume.6 Praktiken der Oral History haben insofern seit den 1980er und 1990er Jahren einen nicht unwichtigen Beitrag zur Entfaltung der heutigen Industriekultur im Ruhrgebiet und anderen Industrieregionen geleistet. Die Einstellung der Steinkohlenförderung in Deutschland mit der Stilllegung der Zechen Anthrazit Ibbenbüren und Prosper- Haniel in Bottrop im August und Dezember 2018 gibt indes Anlass, über heutige mögliche Perspektiven einer Oral History des Bergbaus, spezifischer des Steinkohlenbergbaus, in der Bundesrepublik nachzudenken. Mit dem Ende der Steinkohlenförderung wird einmal mehr deutlich, dass eine spezifische lokale und regionale Erfahrungswelt schwindet, die sich in den Bergrevieren, in den größeren und kleineren Gemeinden um einen bergbauindustriellen Kern entfaltete. Zugleich waren die hiermit verbundenen sozialen Formationen nie manifest. Ganz abgesehen von nicht zu unterschätzenden regionalen Unterschieden waren vielmehr alle bergbaulichen Communities seit Ausbruch der Kohlenkrise einem vielfältigen Wandel unterworfen, sowohl mit Blick auf die Welt der Arbeit unter Tage als auch in Hinsicht auf die Veränderungen der (übertägigen) Alltagskultur – sei es durch die Entfaltung neuer Jugendkulturen, veränderter Konsumpraktiken oder ganz allgemein durch einen Wandel des gesellschaftlichen Wertekanons. All dies spielte sich vor dem Hintergrund des allmählichen Rückzugs der Montanindustrie aus ihren Kommunen ab, der entsprechend mit einer Ausdifferenzierung des Arbeitsmarktes und einer tendenziell abnehmenden Dominanz des Bergbaus als politisch-ökonomischer Akteur einherging. Eine Erfahrungs- und Erinnerungsgeschichte des Bergbaus wird insofern auf Grundlage lebensgeschichtlicher Interviews diese vielschichtigen Ebenen gesellschaftlichen Wandels in den verschiedenen Steinkohlenrevieren reflektieren müssen. Im Anschluss an ältere Projekte wie LUSIR, deren Erzählfokus in der Regel in den 1950er Jahren endete, stehen nunmehr Alterskohor ten im Mittelpunkt, deren Erfahrungshorizonte sowohl durch den langen „Strukturwandel“ geprägt sind als auch durch den tiefgreifenden Wandel bergbaulicher Arbeit im Zuge fortschreitender Mechanisierung. So ist grundsätzlich zu fragen, wie sich die betrieblichen und sozialen Umbrüche der Jahre „nach dem Boom“ in den Erzählungen der Befragten niederschlagen, welche neuen Themen gesetzt und inwiefern alte Erzählstränge fortgeführt oder neu interpretiert werden. Nicht zuletzt geht es um die Frage, inwiefern die Prägung durch den Bergbau auch nach dem Ende der Steinkohlenförderung an Bindekraft behält und welche Rolle eine Oral History dabei spielen kann, die Erinnerungen der eigentlichen Bergbauakteure in den früheren Revieren sicht- und hörbar zu erhalten. Wir gehen im Folgenden von den ersten Ergebnissen eines Projektes aus, das zwischen Ende 2014 und Mitte 2018 in Kooperation zwischen der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets und dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum durchgeführt wurde. Unter dem Titel „Digitaler Gedächtnisspeicher: Menschen im Bergbau“ (MIB) wurden dabei knapp 90 lebensgeschichtliche Interviews mit Menschen geführt, die den Steinkohlenbergbau zwischen Kriegsende und endgültiger Fördereinstellung erlebt haben, nicht nur im Ruhrgebiet, sondern auch in den anderen Steinkohlenrevieren der alten Bundesrepublik, an der Saar, im Aachener Revier und in Ibbenbüren. Neben dieser geografischen sowie einer breiten generationellen Auffächerung, in der sämtliche Phasen und Zäsuren des betrieblichen und wirtschaftlichen Wandels im Bergbau repräsentiert sind, hat das Projekt einen multiperspektivischen Ansatz verfolgt: Jenseits einer in der Oral History etablierten „Geschichte von unten“, die sich vor allem dem Blick der subalternen Schichten widmet, wurde hier versucht, die funktionale Struktur einer Großindustrie möglichst breit abzudecken. So wurden Untertagearbeiter und Steiger ebenso befragt wie Angehörige von Zechenleitungen und des Konzernmanagements; Bergleute mit einschlägiger Migrationsgeschichte, Gewerkschafter und Betriebsräte ebenso wie Familienangehörige (und manchmal alles in einer Person). Es sollten auf diese Weise möglichst viele Blickwinkel auf die verschiedenen Entwicklungen des Lebens mit dem Bergbau eröffnet werden. Es soll im Folgenden zunächst anhand der konkreten Ergebnisse des Projekts – also auf Grundlage der Interviews – angerissen werden, welche thematischen Perspektiven sich mit einem Oral History-Ansatz, teils in der Erweiterung bisheriger Forschung, für die Bergbaugeschichte ergeben. Zweitens wird der langwierige Prozess hin zum letztlichen Ende des Steinkohlenbergbaus als erfahrungsgeschichtlicher Fluchtpunkt skizziert und in einen international vergleichenden Zusammenhang gestellt. Abschließend wollen wir eine weitergehende Beschäftigung mit der Rolle von Zeitzeugenschaft im geschichtskulturellen Raum des Ruhrgebiets und vergleichbarer früherer Bergbauregionen anregen.
  • Volker Wollmann
    Neue Erkenntnisse und Richtigstellungen zur Frage der in den Goldgruben Dakiens entdeckten Wasserheberäder
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  • Von der Vielfalt der von Wasserhebemaschinen, die schon in der Literatur der antike Erwähnung fanden und später auch „Radpumpen” oder „Wasserräder ohne Getriebe” genannt wurden, beschäftigte sich die Montanarchäologie am ausführlichsten mit Schöpfwerken, deren hebende Wassergefäße (Transportkästen) mit dem Rad eine bauliche Einheit bilden. Diese unterscheidensich elementar von Konstruktionen, bei denen eine Eimerkette endlos über ein Rad läuft. Die Radpumpen scheinen in römischen Provinzen die weiteste Verbreitung gefunden zu haben, wobei hinsichtlich der Bauart und des Konstruktionsprinzips zahlreiche Varianten feststellbar sind.
  • Miszellen Anschnitt Ausgabe 2-3|2019 (Download PDF)
  • „Wer seine Vergangenheit kennt, kann Zukunft gestalten. Viele Menschen in unserem Land haben nur ein geringes Wissen über die DDR. Die neuen Forschungsverbünde werden mit ihrer Arbeit dazu beitragen, diese Wissenslücken zu schließen. […] Besonders wichtig ist mir, dass die Forschungsergebnisse in die Gesellschaft getragen und weitere Akteure wie Gedenkstätten in die Verbünde einbezogen werden. Darauf haben wir in der Ausschreibung Wert gelegt.“ (Bundesforschungsministerin Anja Karliczek, zitiert nach www.bmbf.de/de/wissensluecken-ueber-dieddr-schliessen-6346.html, 25.04.2019). Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert im Rahmen seines Programms zur Stärkung der DDR-Forschung insgesamt 14 Forschungsverbünde. Als einer unter ihnen nahm zum 1. März 2019 der Verbund „Umweltpolitik, Bergbau und Rekultivierung im deutsch-deutschen Vergleich. Das Lausitzer Braunkohlenrevier, die Wismut und das Ruhrgebiet (1949-1989/2000)“ seine Arbeit auf. Das Vorhaben ist zunächst auf vier Jahre angelegt und mit rund 2,5 Mio. Euro finanziert.
  • Rezensionen Anschnitt Ausgabe 2-3|2019 (Download PDF)
  • Für die Geschichte industrieller Arbeit und die Gegenwart einer postindustriellen Gesellschaft sind autobiografische Zeugnisse von besonderem Wert. Als Alternative zu den auf Archivquellen beruhenden „harten“ Fakten stellen sie, ähnlich wie die gegenwärtig in der Geschichtswissenschaft wieder hoch gehandelte Oral History, eine Möglichkeit dar, persönliche Sichtweisen bzw. die Perspektive der jeweils Betroffenen zu behandeln. So betrachtet ist der Titel des vorliegenden Bandes durchaus missverständlich. Denn wer einen Band über die historischen und zeitgenössischen Arbeitswelten im Spiegel autobiographischen Erzählens erwartet, wird nur bedingt fündig. Vielmehr sind hier zahlreiche Beiträge versammelt, die aus literatur- und medientheoretischer Sicht den Prozess autobiographischen Schreibens und dabei die „Bedeutung der Arbeit für das Selbstkonzept von Personen“ (7) in den Vordergrund rücken. Dies umso mehr, als angesichts des Wandels der Arbeitswelt und der Vermischung von klassischer Arbeitswelt und Freizeit dem Schreiben über Arbeit eine besondere Bedeutung zukommt.
  • Rainer Slotta
    Altarbild der St. Anna-Kapelle in Leogang (Salzburger Land)
    1769/1770, Ignaz Faistenberger (?), Öl auf Leinwand
    Leogang, Hütten
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  • Leogang ist eine Gemeinde im Pinzgau im österreichischen Bundesland Salzburg; das Gemeindegebiet umfasst insgesamt 16 Ortschaften, darunter auch der Ortsteil Hütten. Name und Entstehung des Ortsteils beziehen sich auf die bedeutenden historischen Bergbaue im Schwarzleotal, wo in den historischen Bergbaurevieren Schwarzleo, Vogelhalte und Nöckelberg Gewinnungsbetriebe in über 1000 m Höhe auf Silber, Blei, Quecksilber, Kupfer, Nickel und Kobalt lagen sowie auf der Inschlagalpe Rohmagnesitbergbau stattfand. An den nördlichen und südlichen Talabhängen finden sich bis heute zahlreiche, meist überwachsene Bergbauhalden und verbrochene Stollenmundlöcher. Ein Teil des ehemaligen Grubengebäudes im Revier Schwarzleo ist heute im Schaubergwerk Leogang zugänglich und informiert über die Bergbaugeschichte des Alpenortes.
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