Forschungsprojekte

Digitaler Gedächtnisspeicher: Menschen im Bergbau
Die Schließung der letzten deutschen Steinkohlenzechen in Bottrop und Ibbenbüren Ende 2018 bedeutet in vielfacher Hinsicht eine Zäsur. Der industrielle Steinkohlenbergbau hat auf die Gestalt und Entwicklung seiner regionalen Umgebung in einem Maße Einfluss genommen wie kaum ein anderer Industriezweig. Er dominierte die jeweilige regionale Wirtschaftsstruktur und den Arbeitsmarkt, er veränderte Umwelt und Landschaftsgestalt in seinen Förderregionen dauerhaft, er schuf ganz spezifische Arbeitswelten und regionale Gesellschaften, und er prägte die Identität von Menschen und Regionen in besonderer Weise. Der Steinkohlenbergbau entfaltete so eine historische Wirkmächtigkeit für seine regionale Umgebung, die das Ende seiner Fördertätigkeit um lange Zeit überdauern wird.

Zugleich war die Branche selbst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vielfältigen Veränderungen ausgesetzt. Der Wiederaufbau nach 1945, die Bergbaukrise seit 1958 und die ein Jahrzehnt später stattfindende Gründung der Ruhrkohle AG, der tiefgreifende technische Wandel im Untertagebetrieb, die Einführung der Montanmitbestimmung als folgenreiche sozialpolitische Innovation, diverse Migrationswellen und schließlich die Folgen des allmählichen Schrumpfungsprozesses in den Bergbaurevieren – all dies sind Aspekte, die die Steinkohlenindustrie seit 1945 nachhaltig geprägt haben. Zu fragen ist allerdings, wie die Menschen vor Ort, also die historischen Akteure selbst, diese vielfältigen Entwicklungen erlebt haben und rückblickend einschätzen. Hier setzt das gemeinsam vom Deutschen Bergbau-Museum Bochum/montan.dok und von der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets getragene Oral-History-Projekt „Digitaler Gedächtnisspeicher: Menschen im Bergbau“ an. In einem Zeitraum von drei Jahren sind über 90 lebensgeschichtliche Interviews zusammengetragen worden, vorrangig im Ruhrgebiet, aber auch in anderen Revieren wie in Aachen, Ibbenbüren und im Saarland.

„Menschen im Bergbau“ sind Menschen, die nach 1945 im Steinkohlenbergbau gearbeitet haben oder deren Lebensumfeld vom Steinkohlenbergbau geprägt worden ist: der Kohlenhauer, der aus einer alten Bergarbeiterfamilie stammt, der Flüchtling oder Heimatvertriebene, der sich nach 1945 im Steinkohlenbergbau eine neue Existenz aufbaute, der türkische Migrant, der in den 1960er-Jahren als „Gastarbeiter“ angeworben und bald zum Stammarbeiter wurde, die Mütter, Ehefrauen und Töchter aus Bergarbeiterfamilien, der Betriebsrat, der Gewerkschaftsfunktionär, der Zechendirektor, der Unternehmensmanager, der Beamte aus der staatlichen Bergbauaufsicht oder der frühverrentete „Bergbauinvalide“. Durch diese generationelle und funktionale Differenzierung ergibt sich ein facettenreiches Bild der komplexen Strukturen und Entwicklungen, denen der Steinkohlenbergbau von 1945 bis 2018 ausgesetzt war. Die individuellen Erinnerungen sind damit Bausteine zu einer Erfahrungs- und Wahrnehmungsgeschichte des Bergbaus der Jahrzehnte seit 1945, die zugleich eingebettet ist in die Geschichte des gesellschaftlichen Wandels in der Bundesrepublik allgemein.

Das Vorhaben versteht sich zunächst als wissenschaftliches Infrastrukturprojekt. Durch die geführten Videointerviews wird ein neuer Quellenkorpus geschaffen, der der Wissenschaft zukünftig zur Verfügung stehen soll. Alle Interviews wurden transkribiert, inhaltlich erschlossen und nach archivfachlichen Gesichtspunkten dauerhaft gesichert. Neben dieser im engeren Sinne wissenschaftlichen Zielsetzung wurde im Rahmen des Projekts eine Internetplattform erstellt, die die Ergebnisse der Befragungen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht. Hier werden thematisch geordnet und ergänzt um weitere Materialien zur Geschichte des Steinkohlenbergbaus nach 1945 Ausschnitte aus den lebensgeschichtlichen Interviews präsentiert.

Das Forschungsprojekt „Digitaler Gedächtnisspeicher: Menschen im Bergbau“ ist durch die RAG Aktiengesellschaft gefördert worden und wird seit 2018 in einer zweiten Phase bis 2021 unter Förderung der RAG-Stiftung fortgesetzt.

Die Website zum Projekt erreichen Sie unter: www.menschen-im-bergbau.de 

Informationen zum Projekt

Projektträger

Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets

Deutsches Bergbau-Museum Bochum

Beteiligte forschende Bereiche
Laufzeit

01.09.2014 – 30.06.2018 (Phase 1)

01.07.2018 – 30.06.2021 (Phase 2)

Förderung
Kooperation
  • Michael Farrenkopf/Wiebke Büsch: Menschen im Bergbau. Websitelaunch und Folgeprojekt, in: montan.dok-news 4, 2018, Heft 2, S. 5.
  • Michael Farrenkopf/Stefan Moitra: Authentifizierungsstrategien von Bergbau-Zeitzeugen im Deutschen Bergbau-Museum Bochum (DBM) und Zeitzeugenprojekte des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok), in: Forum Geschichtskultur Ruhr 1/2015, S. 39-41.
  • Stefan Moitra: Menschen im Bergbau. Ein Oral-History-Projekt, in: montan.dok-news 1, 2015, Heft 1, S. 5.
  • Stefan Moitra: Interviewprojekt „Digitaler Gedächtnisspeicher: Menschen im Bergbau“ – Ein Zwischenbericht, in: Forum Geschichtskultur Ruhr 1/2015, S. 48.
  • Stefan Moitra: Bergbaugeschichte als Oral History – Die neue Internetplattform www.menschen-im-bergbau.de, in: DER ANSCHNITT 70, 2018, S. 243.
  • Stefan Moitra: Bergbaugeschichte als Oral History. Die neue Internetplattform www.menschen-im-bergbau.de, in: Forum Geschichtskultur Ruhr 2/2018, S. 46-47.
  • Stefan Moitra/Katarzyna Nogueira/Jens Adamski: Erfahrung, Erinnerung, Erzählung. Potenziale einer Oral History für die Bergbaugeschichte heute, in: DER ANSCHNITT 71, 2019, S. 93-105.